(Fast) alles über Freiheit

 
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Blogbeitrag zum Kammermusikwochenende «Freiheit über alles»

von Silvan Moosmüller

«Freiheit» – was damit alles gemeint sein kann, lässt sich schwer auf einen Begriff bringen. Zu widerspenstig, zu prekär, zu vielfältig ist die Freiheit. Mitunter neigt sie zu Ambivalenzen, zu Widersprüchen gar: Zu viel Freiheit schlägt rasch in Unfreiheit um. Und die Freiheit der Einen beschneidet jene der Anderen. Die Verlegenheit um eine Definition zeigt sich nicht zuletzt darin, dass Freiheit meist über ihr Gegenteil bestimmt wird: als Abwesenheit von Zwang. Doch eine solche Definition bleibt selbst zwanghaft an das gekettet, was sie überwinden will. Und wer sich von einem Widerstand zeitweilig befreit, hat damit noch nicht bewiesen, dass sie*er den neu gewonnenen «Freiraum» auch zu nutzen, geschweige denn zu gestalten weiss.

Vor allem aber ist Freiheit so schwierig zu definieren, weil sie nicht ist (sie ist kein Ding, kein Zustand). Vielmehr muss sie sich immer wieder von Neuem zeigen – sei es als Handlung, als Erfahrung, als Bewusstsein, als Gefühl. In der Musik gilt das erst recht. Gehört es doch zum ästhetischen Charakter musikalischer Phänomene, dass sie keine feste Gestalt annehmen, sondern sich im «Kommen und Fliehen, im Werden und Gewesenseyn» (Herder) artikulieren. Durch ihren flüchtigen, transitorischen Charakter kann darum gerade die Musik ästhetische Situationen schaffen, in denen sich Freiheit immer wieder von Neuem zeigt. Nicht indem sie diese Situationen benennt oder auf einen Begriff bringt, als vielmehr dadurch, dass sie Freiheit erlebbar, fühlbar, nachvollziehbar macht. 

Will man Momente der Freiheit in der Musik dennoch auf den Begriff bringen, gelingt dies am ehesten auf der Ebene der Werkentstehung, weil hier neben dem rein Musikalischen auch das biografische und kulturgeschichtliche Umfeld in Erwägung gezogen werden kann. Also zum Beispiel: Beethoven, der glühende Anhänger der französischen Revolution und ihrer freiheitlichen Ideale, der das aufklärerische Gedankengut von Selbstbestimmung und Mündigkeit zum Imperativ seines eigenen Komponierens machte und jedem Werk den Atem des autonomen Individuums einhauchte. Oder Dmitri Schostakowitsch, der das repressive sozialistische System mit einem «Lachen durch Tränen» entlarvte, dabei jedoch stets darauf achten musste, dass die zuständigen Institutionen es nicht merkten.

Wesentlich schwerer fassbar ist die Frage, wie sich solche kultur- und ideengeschichtlichen Freiheitskontexte konkret musikalisch äussern, denn in diese musikalische Dimension reicht die Sprache nur noch als Metapher hinein. In seinem Zweiten Streichquartett bietet Arnold Schönberg einer Übertragung des Freiheitsbegriffs ins Musikalische einen Bezugspunkt, indem er im letzten Satz die zarte Entrückung von der Tonalität mottoartig mit Stefan Georges Worten: «Ich fühle Luft von anderem Planeten» verschränkt. In diesem Finale trägt die Sprache die Musik gleichsam über sich selber hinaus. Georges Gedicht ist gleichzeitig kompositorisches Trägerelement und Lizenz zur Befreiung der Musik vom System der Dur/Moll-Tonalität. 

In Beethovens späten Streichquartetten, diesen Gründungsurkunden ästhetischer Autonomie, wiederum lassen sich Moment der Freiheit in verschiedenster emotionaler Sättigung heraushören: Etwa, wenn sich die motivisch-thematische Entwicklung trotzig aufstaut, als versammelten die Themen ihre ganze Kraft, um aus dem Käfig der Form auszubrechen. Oder wenn harmonische Rückungen angesetzt sind, als demonstriere der Komponist damit seine Souveränität über die Eigenlogik des musikalischen Prozesses. Nicht immer erscheint die Freiheit in Beethovens Quartetten aber als dialektisch errungener Kraftakt. Es gibt auch jene zauberhaften Momente, in denen die Zeit stillsteht und die Musik nach nichts anderem verlangt als nach sich selber: Jene Momente, in denen Beethoven seine Themen «singen» statt «arbeiten» lässt. In diesen sparsamen Augenblicken erscheint Freiheit nicht mehr als Ziel am Horizont, sondern ist ganz Erfüllung geworden.

Und was ist mit dem Hören? Wie frei kann das Hören von Musik sein? Von aussen besehen wirkt kaum etwas unfreier als das kontemplativ in sich versunkene Publikum in einem klassischen Konzert. Sogar der ganz auf «tönend bewegte Formen» bedachte Musikkritiker Eduard Hanslick wies auf die unmittelbar körperlichen Kräfte der Musik hin, die im Zuge der Ritualisierung der klassischen Konzertform im 19. Jahrhundert unterdrückt werden: «Unläugbar ist, dass Tanzmusik in jungen Leuten, deren natürliches Temperament nicht durch die Uebung der Civilisation ganz zurückgehalten wird, ein Zucken im Körper, namentlich in den Füssen hervorruft.»

Die hiermit angesprochene Unterdrückung physischer Reflexe auf musikalische Wirkungen ist nur das eine. Manche Komponisten des 20. Jahrhunderts gingen in ihrer Kritik einer insgesamt viel zu unfreien und bevormundenden Hörpraxis wesentlich weiter. Der österreichische Komponist Peter Ablinger qualifizierte sogar jegliche Art von musikalischer Gestaltung als «über den Tisch ziehen der hörigen Masse». Die Befreiung des Hörens sollte seiner Ansicht nach mit akustischen Situationen bewerkstelligt werden, in denen statt dessen, was man landläufig als Musik bezeichnet, ein blosses gestaltloses Rauschen ohne innere Strukturierung oder zeitliche Verlaufsform, die indifferente Totalität des Hörbaren erfahrbar macht. 

Aber wirkt dieses radikale Zurückgeworfensein auf die eigene Hörwahrnehmung tatsächlich befreiend? Das Gegenargument sei auch hier musikalisch gegeben: mit dem Streichquartett von Sofia Gubaidulina. Eine Musik, die eigentlich gar nicht klingt, als wäre sie je gemacht, komponiert oder gespielt worden. Eher wirken die gezupften und glissandierenden Töne und Mikrotöne wie ein imaginärer Regen, der die vier Streichinstrumente tröpfchenweise zu einem wundersamen Eigenleben erblühen lässt. Beim Zuhören fühle ich mich ganz bei mir selber und bin gleichzeitig verbunden mit etwas Anderem, Unbegrifflichen, ja Unbegreiflichen, das mich dennoch trägt und bei sich aufnimmt. Das Hören als selbstbewusstes Verbundensein mit dem Anderen. Dies ist eine Freiheit, die vielleicht tatsächlich nur die Musik zu geben vermag.

Silvan Moosmüller, 1987 in Luzern geboren, studierte Deutsche Philologie und Musikwissenschaft an der Universität Basel. 2019 promovierte er mit einer Arbeit zur Semantik der Stimmung in Musik und Literatur um 1700. Er ist als Musikjournalist beim Schweizer Radio SRF 2 Kultur tätig, und als Gastdozent an verschiedenen Hochschulen. In seinem Postdoc-Projekt beschäftigt er sich mit «Kollektivem Erzählen» in der Gegenwartsliteratur.

Rachel Eisenhut