Eintauchen in eine surreale Welt

 
 
 

Blogbeitrag zur Collage «lunático»

 von Sibylle Ehrismann

Ein mutiger Ansatz: den faszinierend schillernden Musik-Roman Mondariz von Yorck Kronenberg zum Ausgangspunkt für eine Collage zu nehmen. Schon das Buch ist vielschichtig und schwebt zwischen den Welten: ein Musikologe reist auf eine «versunkene» Insel, um den Nachlass des fiktiven Komponisten José Diego Coimbra zu sichten, ja dessen Musik für die Nachwelt zu entdecken.

Für mich als Musikologin, die regelmässig in Nachlässen und Archiven forscht, ist dieses Buch doppelt bemerkenswert. Kronenberg schildert darin sehr genau, wie spannend eine solche Spurensuche ist, welche Faszination mit dem plötzlichen Aufklingen vergessener Musik verbunden ist. Und er beschreibt die Musik Coimbras, die er lesend analysiert und auch selber auf dem Klavier spielt, in ihrer wuchernden Struktur durchaus realistisch:

«Erst als ich im Spielen sicherer wurde, begann das Stück (Coimbras Klaviervariationen) seine eigene Faszination zu entwickeln, ich hatte lange nicht mehr musiziert, genoss die unbekannte Klangwelt und auch die tiefe Melancholie, die den ganzen Zyklus zu durchdringen schien. (…) Das Thema ging in die erste Variation über, nach und nach traten Nebenlinien den beiden Hauptstimmen zur Seite, diese mehr und mehr überwuchernd, als drängten sich immer neue Assoziationen in den schweifenden Fokus des Bewusstseins.»

Kronenberg schreibt mitten aus der Musik heraus: Er ist auch Pianist und Komponist. Seine literarischen Schilderungen der Musik Coimbras hat er denn auch zusätzlich in Noten niedergeschrieben. Nicht nur die Klaviervariationen, die er selber bei Lesungen gerne spielt. Kronenberg hat auch ein Streichquartett im fiktiven Stile Coimbras komponiert, das von 1864 stammen soll.

Dieses Streichquartett bildete den Ausgangspunkt für die Collage vom 15. Juni 2023 im Festsaal des neuen Chipperfield-Baus des Kunsthauses Zürich. Gespielt wurde es vom renommierten Arditti Quartett, das immer wieder mit grossartigen Interpretationen zeitgenössischer Quartette von sich reden macht. Schon erstaunlich: Als ich dieses Quartett hörte, hatte ich das Gefühl, Coimbras Stil deutlich wieder zu erkennen – Kronenberg hatte diesen so plastisch beschrieben.

Und auf einmal begann diese «Fantasiewelt» lebendig zu werden, das Collage-Konzept von Rachel Eisenhut machte das Irreale sicht- und hörbar. Die surrealen Video-Bilder von Barbara Signer (*1982) erzählten dazu ihre eigene, zwischen dem Imaginären und dem Realen schwebenden Geschichten, sie gaben dem abgründig Dunklen eine neckisch verspielte Note.

Etwas Unheimliches hatte die Musik des Kolumbianers Leonardo Idrobo. Er schrieb über den Mondariz-Roman ein Auftragswerk: VERSUNKEN – Música para una isla incierta für Mezzosopran, Altsaxophon und Schlagzeug (2023). Es sind Stimmungsbilder an der Grenze zu einer versunkenen Welt, sprach- und tonlos ins Geräuschhafte übergehend. Das ging, von Jeannine Hirzel, María Luisa Cuenca Arráez und Louisa Marxen halbszenisch interpretiert, direkt unter die Haut.

Wo liegt die Grenze zwischen Wahn und Wirklichkeit? Die «Canciones lunáticas» der mexikanischen Komponistin Hilda Paredes (*1957) gaben darauf die Antwort: «lunático» heisst nicht nur mondsüchtig, sondern auch verrückt - eben nicht mehr von dieser Welt. Es war das Motto der gesamten Collage. Wie Paredes die drei wortgewaltigen Gedichte von Pedro Serrano vertont hat, ist von feinster Suggestivkraft. Der fabelhafte Countertenor Jake Arditti verlieh den «Canciones» etwas Surreales, auch war seine Stimme mit dem Streichquartettsatz und dessen «mondsüchtigen» Flageoletts eng verwoben – Paredes hat diese Struktur meisterhaft durchgehört.  

Auch die Musik von Coimbra hat ihr Geheimnis. So steht im Mondariz-Roman: «In seiner letzten Fassung der Grossen Sinfonie in cis-Moll hat Coimbra die Idee des Wucherns verschiedener Stimmen, die sich zum Teil im Unhörbaren, Verborgenen vollzieht, auf eine neue Ebene gehoben: Hier ist nicht mehr festgelegt, welche Stimmen erklingen sollen, der Dirigent kann während der Aufführung verschiedene Gruppen aus dem Gesamtensemble herausgreifen, während andere zu spielen lediglich vortäuschen sollen…All die Stimmen, die gar nicht mehr klingen sollen und die es doch gibt, untergründige Gedanken, längst Vergangenes.»

Sibylle Ehrismann stammt aus Wetzikon, sie wurde in eine Musikerfamilie geboren. Sie ist freischaffende Musikpublizistin und Ausstellungskuratorin. Sie lebt und arbeitet in Aarau.

WälderRachel Eisenhut