Heimat und Fremde – Flucht und Asyl

 
 
 

Blogbeitrag zum Kammermusikwochenende «Wohin ich dich verlor»

 von Hans-Joachim Hinrichsen

Die Romantik hat es erstmals gezeigt und in allen Facetten durchdekliniert. Was man gut zu kennen glaubt, wird bei näherem Zusehen sehr schnell rätselhaft und ungemütlich. Das Eigene, die vertraute Heimat, steht dem bohrenden Fernweh gegenüber, aber die Fremde, in die es einen dann verschlagen hat, kann aus dem Objekt der Begierde nur zu rasch zum negativen Gegenpol der schmerzlich vermissten Heimat werden. Das Fremdsein angesichts der eigenen Herkunft, das Irren und Verlorensein in der Fremde, die unstillbare Sehnsucht nach weit fort und auch wieder zurück – das alles sind bekanntlich Topoi romantischer Lyrik und Musik, von Hölderlin bis zu Eichendorff, von Schubert bis zu Schumann. Die Wortstämme des Heimelig-Heimlich-Heimatlichen und des Fremdartig-Fremden-Befremdlichen rühren an die Wurzeln der menschlichen Existenz, und ihre ideengeschichtlichen Ausstrahlungen reichen weit. Die kritisch gemeinte «Entfremdung» in der Theorie des jungen Marx ist ein anthropologischer Terminus aus dem Erbe romantischen Denkens; die künstlerische «Verfremdung», von Brecht aus dem russischen Formalismus in sein Theater übernommen, ist ein ebenfalls bereits in der Romantik angelegtes modernes Mittel ästhetischer Erkenntnis. Solange aber die Konzepte des Eigenen, der Heimat, der Unbehaustheit und der Fremde die Befindlichkeit des Menschen in der Moderne «nur» künstlerisch und experimentell ausloten, sind sie zwar abgründig und oft auch beklemmend, aber doch harmlos im Vergleich zu dem, was einem Künstler geschieht, wenn ihm die Dialektik von Heimat und Fremde zum absoluten existentiellen Ernst wird – wenn es sozusagen ums Überleben geht.

Das ist der Fall, wenn es keine Wahl mehr gibt, wenn das Verbleiben in der geliebten Heimat zur lebensbedrohlichen Entscheidung gerät – kurz, wenn es sich darum handelt, die eigene körperliche und geistige Unversehrtheit gegen Verfolgung zu bewahren. Vor politischer Repression schützen selbst einen berühmten Künstler oft nur Anpassung oder Flucht. Das ist in prominenten Fällen auch schon im 19. Jahrhundert der Fall gewesen (man denke an Georg Büchner oder an Richard Wagner in Zürich; man denke an den Exodus russischer Schriftsteller aus dem Zarenreich nach Westeuropa), aber es ist doch leider eine signifikante Eigenschaft erst des schrecklichen 20. Jahrhunderts. Wohl niemand, der es nicht selbst erleben musste, kann nachvollziehen, was es bedeutete, auf der Flucht vor Hitlers oder vor Stalins Schergen die Heimat verlassen zu müssen. Oder wie es sich anfühlte, in ständiger Angst dennoch dort zu verharren, weil man sich nicht trennen mochte, wollte, konnte.

Ein helles Schlaglicht fällt in der Programmatik von «Wohin ich dich verlor» auf die vielen erschreckenden und tragischen Fälle im Osteuropa des 20. Jahrhunderts. Ob Dichtung, ob Malerei, ob Musik – vor staatlicher Repression war keiner dieser Bereiche gefeit. Oft haben sich Künstler ins Exil begeben, oft mussten sie während des Krieges ein weiteres Mal fliehen, oft kehrten sie später zurück und emigrierten dann nicht selten abermals, viele aber blieben auch einfach daheim. Die Geflohenen nahmen ihre Kunst, die Sprache, die Musik als ihre «tragbare» Heimat mit (Heinrich Heine hat einmal tief verständnisvoll vom Alten Testament als dem «portablen Vaterland» der Juden gesprochen), und in ebendiese künstliche «Heimat» zogen sich auch die äusserlich Daheimgebliebenen als in ihr inneres Asyl zurück. Unschwer kann man diese sehr unterschiedlichen und doch gemeinsamen Schicksale und Lebenswege zwischen Bleiben und innerer Emigration, Flucht und Exil, Rückkehr und Anpassung an Dichtern und Dichterinnen wie Czeslaw Milosz oder Anna Achmatowa, an Malern wie Kandinsky, Chagall und Malewitsch oder an Komponisten wie Rachmaninow, Medtner, Prokofjew oder Weinberg nachvollziehen. «Sei du, Gesang, mein freundlich Asyl», hatte schon um 1800 der von der Kunstfeindlichkeit seiner Umgebung enttäuschte Friedrich Hölderlin tiefsinnig-traurig gedichtet. Und in seinem Roman Hyperion heisst es, an die eigenen Landsleute gerichtet: «Es ist auch herzzerreissend, wenn man eure Dichter, eure Künstler sieht, und alle, die den Genius noch achten, die das Schöne lieben und es pflegen. Die Guten! Sie leben in der Welt, wie Fremdlinge im eigenen Hause […].» Das war wohl als Erfahrung schlimm, enttäuschend und frustrierend genug. Aber erst in den Terrorstaaten und Diktaturen des mittleren 20. Jahrhunderts gewann diese Erkenntnis einen hässlichen und absolut erschreckenden Ernst.

Man kann das auf eindrückliche Weise an der Entwicklung des Komponisten Dmitri Schostakowitsch beobachten, der nach einer Phase unbekümmerten künstlerischen Experimentierens nach 1935 sehr rasch erkennen musste, dass ihm dies nun nur noch unter höchster Lebensgefahr möglich gewesen wäre. Seine Oper Lady Macbeth wurde von höchster Stelle aus dem Spielplan genommen; seine avantgardistische Vierte Sinfonie zog er freiwillig zurück. Sein Heimatland zu verlassen, kam ihm trotz aller Repression wohl nie in den Sinn. Im Ausland (das er erst sehr spät vereinzelt und flüchtig besuchte: Deutschland, USA) fühlte sich der keiner Fremdsprache mächtige Künstler im Wortsinne fremd. Was nach 1935 folgte, war der kompositorische Rückzug ins Klassizistische, wie oft gesagt wird. Aber dieses (früher oft kritisch gemeinte) Etikett ist so falsch wie oberflächlich. Worum es eigentlich geht: Die Kultivierung «klassischer» Formen (wie der viersätzige sinfonische Weg von Moll nach Dur; wie die ehrwürdige Gattung des Streichquartetts¸ wie die Sonatenform oder die Fuge) signalisiert nur äusserlich eine Anpassung an die staatlicherseits geforderte Volkstümlichkeit, Einfachheit und Verständlichkeit. In Wirklichkeit lotet Schostakowitsch, der hier aus der tiefen Not eine absolute Tugend zu machen versteht und nebenbei auch zeigt, wieviel er seinem Konservatoriumslehrer Alexander Glasunow verdankt, die Tradition in all ihren Abgründen, enormen Potentialen und noch ungenutzten Möglichkeiten so aus, dass er damit zu einem (nun nicht mehr negativ gemeinten) «Klassiker» der Moderne geworden ist. Die Kammermusik, allen voran die gefürchtete und schwierige Gattung des Streichquartetts, nutzt er zur intimen Aussprache abseits der Öffentlichkeit und transformiert sie zu einer Art von fortlaufender tagebuchartiger Konfession. Dazwischen komponiert er auch immer wieder «grosse» sinfonische Werke für die Öffentlichkeit, die wechselweise von der Kulturpolitik approbiert und verworfen werden (man hat angesichts dieser «ups and downs» von einem regelrechten «Jo-Jo»-Effekt gesprochen).

Und vor allem: Er bildet nun systematisch den erst von heute aus in seiner ganzen Tiefgründigkeit erkennbaren «Schostakowitsch-Ton» aus – eine Palette von Stilen und Tonfällen, die vom Schmerzlichen und Schönen über das Tragische bis zum Sarkastischen, Grotesken und Hintersinnigen reichen. Die Doppelbödigkeit dieser Tonsprache ist berüchtigt: Oft kann es so oder so gemeint sein – affirmativ oder subversiv. Das Letztere ist wahrscheinlicher, aber auch nicht immer sicher. Man höre nur die Scherzo-Sätze seines Klavierquintetts und seines 10. Streichquartetts! Schmerz, Sarkasmus, Ironie, kritische Beschwörung des Hässlichen, Wut, Trauer – oder lockeres ästhetisches Spiel? Schwer zu entscheiden, weil atemberaubend virtuos ins Werk gesetzt, aber gerade dadurch ungemein reizvoll. Und dann die Schlüsse beider Werke: ätherisch schön, leicht hingeworfen, schwermütig-nostalgisch? Eindeutig ist daran nichts. Und nicht zuletzt in dieser ästhetischen Unfassbarkeit liegt ein (später) Triumph des so widerwillig und doch gern in der Heimat verbliebenen politisch Bedrängten, dessen Musik uns je später desto tiefer berührt. Es sind eben Blicke in die Abgründe der menschlichen Existenz – vertraut und fremd zugleich: heute ästhetische Heimat für jeden Musikliebhaber und doch stets auf irritierende Weise rätselhaft und nie restlos einzugemeinden. 

Hans-Joachim Hinrichsen studierte Germanistik, Geschichte und Musikwissenschaft an der FU Berlin und ist seit 1999 ord. Professor für Musikwissenschaft an der Universität Zürich. Seit 2018 ist er emeritiert. Er ist Mitherausgeber der Periodika «Archiv für Musikwissenschaft»und «wagnerspectrum», ferner Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und des Beirats am Beethoven-Haus Bonn. Seine jüngsten, auch ins Japanische und Koreanische übersetzten Bücher gelten dem Schaffen Franz Schuberts, den Sinfonien Bruckners, den Liedern Mahlers und den Klaviersonaten Beethovens. Seine neue Beethoven-Monographie («Beethoven. Musik für eine neue Zeit») ist bereits in der zweiten Auflage erschienen.

Rachel Eisenhut