Warum (heute noch) Hölderlin lesen? Oder: Warum Hölderlin hören?
Blogbeitrag zur Collage «Dichterliebe»
von Hans-Joachim Hinrichsen
Hölderlin zu lesen ist nicht leicht. Seine reife Lyrik ist oft abgründig schwierig, voll von verborgen scheinendem Sinn und in ihrer Bedeutung selbst bei wiederholter Lektüre kaum unmittelbar zu erfassen. Andererseits gilt ebenso: Hölderlins lyrische Sprache ist ungewöhnlich schön – von einem Sprachzauber, dem man sich nur schwer entziehen kann, voller origineller und faszinierender Bilder, und insgesamt geprägt von einer Kühnheit des Satzbaus, die auf den ersten Blick anmuten kann wie ein Vorgriff auf die poetische Avantgarde des 20. Jahrhunderts. Genau diese Kombination von schwer zu erringender Verständlichkeit und unbestreitbarer sprachlicher Schönheit ist der Angelhaken, den Hölderlin nach seinem Publikum auswirft, das er sich nicht als ein gewöhnliches, sondern als ein zu Anstrengungen bereites und keine Mühe scheuendes vorstellt. «Ich bitte dieses Blatt nur gutmütig zu lesen», schrieb er im Vorspruch zu einem seiner letzten großen Gedichte («Friedensfeier»), um dann jedoch auch die «Gutmütigen» sogleich zu warnen: «Sollten aber dennoch einige eine solche Sprache zu wenig konventionell finden, so muss ich ihnen gestehen: Ich kann nicht anders». Das klingt fast wie Martin Luther auf dem Reichstag zu Worms, selbstbewusst, trotzig, aber auch kompromisslos.
Der reife Hölderlin wusste genau, was er seiner Leserschaft zumutete. Dann folgte die geistige Umnachtung, die ihn für die zweite Hälfte seines Lebens gefangen hielt. Die schlichten, gereimten, meist sehr kurzen und eigentümlich monotonen Gedichte, die in dieser spätesten Phase gelegentlich noch entstanden (so etwa das berühmte «Die Linien des Lebens»), scheinen einer völlig anderen Welt zu entstammen als die hochgespannten Oden, Elegien und Hymnen der Zeit vor dem Zusammenbruch. Es ist, als hätte sich in Hölderlins wirklichem Leben die schroffe Zweiteiligkeit des kurz vor dem Ausbruch des Wahnsinns entstandenen Gedichts «Hälfte des Lebens» in schockierende Realität umgesetzt. Doch wichtiger als solch eine problematische Deutung ins Private (für die man Hölderlin prophetische Gaben zusprechen müsste) dürfte die geschichtsphilosophische Dimension des Gedichts sein: der schonungslose Ausdruck des Kontrasts zwischen der beseelten Antike und einer götterfernen Gegenwart.
Schwierig ist Hölderlin heute nicht zuletzt durch das Schwinden vieler Bildungsvoraussetzungen, die zu seiner Zeit ganz selbstverständlich waren. Wer ist denn heutzutage noch sattelfest im Umgang mit der komplexen Metrik der antiken griechischen Poesie, an der Hölderlin sich abarbeitet wie kein deutschsprachiger Dichter zuvor? Wer ist heute noch vertraut mit den unzähligen Figuren und Geschichten der griechischen Mythologie, die Hölderlin phantasievoll auf die Moderne appliziert und dabei in oft aufregender Weise uminterpretiert? Und wer kennt sich wirklich aus in sämtlichen Finessen der antiken Rhetoriklehre, mit denen der Dichter sein eigenwilliges Deutsch nach allen Regeln der Kunst an die Grenzen des Sagbaren führt? All das macht ihn so schwierig wie schön.
Man sollte sich aber nicht abschrecken, sondern im Gegenteil verführen lassen: Denn immerhin lässt sich vieles an Hölderlins Dichtung selbst ohne diese Prämissen auch intuitiv erschliessen. Dafür ein Beispiel: In seinem Gedicht «Sonnenuntergang», einer kunstvollen Ode im sogenannten alkäischen Versmass, projiziert Hölderlin das allseits vertraute abendliche Naturbild subtil in die antike Vorstellung vom göttlichen Sonnenjüngling Apoll, der sich von denen, die um die spirituelle Dimension dieses Naturvorgangs nicht mehr wissen, im goldenen Glanze gen Westen entfernt (hin «zu frommen Völkern, die ihn noch ehren») und das Licht in die Nacht, in den Winter mit sich nimmt – um dann, was das Gedicht nicht sagt, wie aber jeder weiss und hoffen darf, dereinst vielleicht von Osten her erneut zu kommen. Es verbirgt sich also in der Tiefe dieses Sprachkunstwerks, ohne explizit durch Nennung von Namen gesagt zu werden, eine aus Tages- und Jahreszeitenrhythmus sowie aus zyklisch-mythologischer Zeitvorstellung gewebte, nur zart angedeutete utopisch hoffende Geschichtsphilosophie. Diese Schichten gilt es in Hölderlins Dichtung geduldig aufzublättern. Dann zeichnet sich, über das Gesamtwerk weithin erstreckt, ein zusammenhängendes poetisches Anliegen ab, das von der Trauer über den Verlust einer Harmonie von Kultur und Natur ausgeht, wie sie im Bild der antiken Götterwelt sich ausdrückte, das ferner tief an der Verzweiflung über die Entfremdung und Vereinzelung des modernen Menschen leidet, wie sie die arbeitsteilige Ökonomie der Gegenwart mit sich bringt, und das schliesslich in die Hoffnung auszugreifen wagt, all dies möge sich durch aufmerksames und geduldiges Lesen der Geschichts- und Naturzeichen sowie durch die Besinnung auf die verschütteten seelischen und geistigen Möglichkeiten der menschlichen Existenz auf einem neuen Niveau dereinst erneuern lassen – unter den schwierigen Bedingungen der zersplitterten abendländischen Moderne, die der späte Hölderlin gern «hesperisch» nennt.
Weder aber der Rückgriff auf die Antike noch das Vertrauen in das zeitgenössische Christentum bieten dafür die verlässlichen Grundlagen. Eine fundamentale geistige Neuorientierung für die hesperische Kultur steht, bisher erst in Umrissen erkennbar, noch weitgehend aus. Jedenfalls aber versuchen Hölderlins Gedichte, die Heimat im engeren Sinne, die von den Strömen Donau, Rhein, Main und Neckar durchflossene Landschaft Süddeutschlands, als den erhofften Ankunftsort der neuen Kultur zu entwerfen (erstmals in der Ode «Heidelberg», später in den sogenannten grossen Strom-Gedichten). Das «Vaterland» meint daher bei ihm auch nie – wie man heute argwöhnen könnte – etwas chauvinistisch Verengtes, sondern ganz im Gegenteil die seit der Französischen Revolution progressiv konnotierte Vorstellung einer «patrie» für alle Menschen, in der Freiheit, Freude und Frieden einmal zur Wirklichkeit werden könnten. Und weil – ein biographischer Zufall – seine eigene Lebenswelt kurz vor dem Zusammenbruch sogar noch die Erfahrung des mediterranen Lichts und der südlichen Landschaft zu integrieren vermochte, ist ihm (wie in der grandiosen späten Hymne «Andenken») der «Nordost», dessen Richtung, sobald er «wehet», die deutsche Heimat mit dem südfranzösischen Bordeaux, dem Ort seiner letzten Hauslehrerstelle, verbindet, «der liebste unter den Winden mir». Auch hier wieder hat die scheinbar nur geographische Beschreibung eine geschichtsphilosophische Tiefendimension. Nicht zufällig endet die Hymne «Andenken» mit der berühmten Zeile «Was bleibet aber, stiften die Dichter».
Um diese Zuversicht muss der Poet jedoch stets aufs Neue ringen. Der vom Verlauf der Französischen Revolution enttäuschte Hölderlin kämpft, an der eigenen Rolle des «Dichters in dürftiger Zeit» immer wieder verzweifelnd, gegen Resignation und Depression. Sein eigenes Tun beschreibt er selbst meist nicht als Dichtung, sondern mit einer über Klopstock bis in die Antike zurückreichenden Metapher als «Gesang». Nur selten nennt er es, wie in der ersten Strophe von «Heidelberg», mit hintersinniger, zum Widerspruch reizender Untertreibung, «ein kunstlos Lied» – sagt damit aber in jedem Fall, dass diese Lyrik nicht etwa stumm gelesen, sondern wirklich gehört sein will. Eine besonders berührende Zeile gelingt ihm in dem Gedicht «Mein Eigentum»: «Sei du, Gesang, mein freundlich Asyl!»
Wie er sein persönliches Erleben – teils tragisch, teils elegisch, teils utopisch – mit dem geschichtlich-mythologischen Gesamtprozess verbindet, zeigt seine Aneignung der aus Platons «Symposion»-Dialog stammenden Figur der Diotima, von der Sokrates das Wesen der erotischen Liebe lernt (die wir heute die «platonische» nennen). Hölderlin übernimmt ihren Namen für die tragisch endende Geliebte seiner Romanfigur Hyperion, überträgt ihn später aber auch auf seine eigene grosse Liebe Susette Gontard und widmet ihrer Imagination einige seiner schönsten Gedichte, die diesen Namen im Titel tragen. Diotima steht für die rauschhafte Erfüllung der Liebe ebenso wie für die schockierende Vergänglichkeit der Schönheit und die Zerbrechlichkeit der Utopie.
Am Ende gelangt die Sprache, mit der sich Hölderlin an seine trägen, naturvergessenen und entfremdeten Zeitgenossen wendet, an die Grenze der Zerrüttung und Überlastung. Das nimmt ihr aber nichts von ihrer Faszination. Das tapfere Festhalten an einem Optimismus, der angesichts der Zeitumstände eigentlich nur noch aussichtslos erscheint, bezeichnet eine Haltung auf dem äussersten Posten utopischen Denkens, die uns nicht nur rühren, sondern auch aufrütteln sollte.
Warum also heute noch Hölderlin lesen? Warum, um es zuzuspitzen, sich vorbehaltlos auf ihn einlassen, der es uns doch so schwer macht? Die Antwort kann nur lauten: um an dieser Sprache eine unvergleichliche ästhetische Erfahrung zu machen. Wie alle wahren ästhetischen Erfahrungen ist auch diese unabschliessbar. Da gibt es kein finales Ziel, keine endliche Erkenntnis, kein begriffliches Verstehen. Hölderlins Gedichte sind keine Mitteilungen, sondern Kunstwerke, die dazu auffordern, ihre Besonderheit als Artefakte nachzuvollziehen und daran geistig zu wachsen. Sie lassen sich nicht einfach vom Sperrigen ins Bequeme übersetzen, und der Widerstand, den sie bieten, zwingt zur Langsamkeit des Lesens – des möglichst lauten, immer wiederholten Lesens. Sie müssen klingen. Es ist schon viel gewonnen, wenn man begreift, warum sie nicht einfach zu verstehen sind – denn im klassischen Sinne unverständlich sind sie nun wiederum ebenfalls nicht. Sie zu verstehen, braucht Zeit. Hölderlin steht in der dichterischen Landschaft Deutschlands da wie ein erratischer Block. Für die einen eine Zumutung, ein Ärgernis, eine Provokation. Für die anderen hingegen ein unersetzbares, kostbares, mit nichts sonst in der deutschen Sprache zu vergleichendes Geschenk.
Einen besonderen Zugang zu Hölderlin hat sich die Musik gebahnt. Seltsam genug ist die Tatsache, dass (von wenigen Ausnahmen, Schumann etwa und Brahms, abgesehen) erst die Musik des 20. Jahrhunderts sich seiner angenommen hat. Natürlich liegt das an seiner weitgehenden Unbekanntheit zu Lebzeiten und noch lange danach, aber eben auch daran, dass wohl erst die Neue Musik die technischen Möglichkeiten sah, mit einer innovativen Metrik, Harmonik und Syntax auf die Komplexitäten von Hölderlins Lyrik zu reagieren. So ist Hölderlin, der als Dichter um 1806 zu verstummen begann, mehr als 100 Jahre später zum Zeitgenossen des 20. Jahrhunderts geworden. Schon eine nur kursorische Aufzählung von Namen, die mit Hölderlin musikalisch in Verbindung stehen, wirkt wie ein Kompendium der Neuen Musik: von Max Reger und Paul Hindemith bis zu Luigi Nono, Giacomo Manzoni, Bruno Maderna, Henri Pousseur, György Kurtág, Wilhelm Killmayer, Nicolaus A. Huber, Heinz Holliger, Hans Zender, Aribert Reimann, Wolfgang Rihm, und so weiter und so fort.
Die Fülle der Auseinandersetzungen mit Hölderlin, auf die sich die Musik des 20. Jahrhunderts eingelassen hat, mag man kaum noch mit dem schlichten Begriff «Vertonung» bezeichnen. Das zeigt sich bereits an Kompositionen, die vergleichsweise früh, also vor oder um 1950 entstanden sind. Nicht selten sind es, wie schon bei Hanns Eisler, eher musikalische Bearbeitungen der vom Komponisten bewusst fragmentierten Texte, häufig eher Konstellationen oder sogar Konfrontationen von Musik und Text – immer aber intensiv darum bemüht, den oft dunklen Sinn dieser Gedichte in einer eigenen Dimension zu erschliessen und ihr elegisches wie ihr utopisches Potenzial zu vertieftem Verständnis zu bringen. Für Eisler, aber auch für Benjamin Britten und besonders für Viktor Ullmann sind es tiefe existenzielle Erschütterungen (die Vertreibung ins Exil, der Schock über die Gräueltaten der Nazis, die lebensbedrohliche Einkerkerung), die sie mit Hölderlin als einer Identifikationsfigur zu verarbeiten suchen. Vor allem leisten sie eines auf unübertreffliche Weise: Sie machen diese schwierig-schöne Lyrik, wohl ganz im Sinne des Dichters selbst, buchstäblich hörbar.
Hans-Joachim Hinrichsen studierte Germanistik, Geschichte und Musikwissenschaft an der FU Berlin und ist seit 1999 ord. Professor für Musikwissenschaft an der Universität Zürich. Seit 2018 ist er emeritiert. Er ist Mitherausgeber der Periodika «Archiv für Musikwissenschaft»und «wagnerspectrum», ferner Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und des Beirats am Beethoven-Haus Bonn. Seine jüngsten, auch ins Japanische und Koreanische übersetzten Bücher gelten dem Schaffen Franz Schuberts, den Sinfonien Bruckners, den Liedern Mahlers und den Klaviersonaten Beethovens. Seine neue Beethoven-Monographie («Beethoven. Musik für eine neue Zeit») ist bereits in der zweiten Auflage erschienen.